Sind bestimmte Sprachen, z.B. Französisch, für schwerhörige alte Menschen leichter verständlich als andere, z.B. Deutsch? – von Gundolf Meyer-Hentschel
Vor einigen Tagen besuchte ich einen Bekannten, der fast 90 Jahre alt ist. Er war guter Dinge und freute sich über meinen Besuch. Sein einziges Problem, sagte er, sei sein Gehör. Ja, da hatte er Recht. Es war sehr mühsam und anstrengend, mit ihm zu sprechen. Ich musste extrem deutlich, in kurzen Sätzen und ziemlich laut mit ihm sprechen. Ich fragte seine Frau, wie sie das mache. Sie verriet mir einen Trick.
Sie hätten viele Jahre in Frankreich gelebt und Französisch sei zur zweiten Muttersprache geworden. Deshalb habe sie eines Tages etwas auf Französisch zu ihrem Mann gesagt. Und das habe er viel leichter verstanden als ihre Sätze in deutscher Sprache.
Da ich nie Französisch gelernt haben, konnte ich den Trick nicht ausprobieren. Deshalb bat ich die Dame, dies für mich tun. Tatsächlich, es funktionierte.
Diese erstaunliche Erfahrung weckte den Wissenschaftler in mir. Ich recherchierte, was dahinter stecken könnte.
Die Konsonanten machen Probleme, wenn man schwerhörig ist
Wenn man im Alter schwerhörig wird oder ist, leidet am ehesten das Verständnis der Konsonanten. Diese liegen im oberen Frequenzbereich und haben eine relativ geringe Schallenergie, d.h. sie kommen „leise“ am Ohr an. Die folgende Abbildung macht dies deutlich. Die stimmlosen Konsonanten F, P, S und T werden am ehesten von einer Altersschwerhörigkeit beeinträchtigt.
Quelle: https://www.ecophon.com/de/know-how/acoustic-knowledge/basic-acoustics/sprache-und-horen/
Wie wichtig sind die Konsonanten für das akustische Verstehen von Sprache?
Da sind wir genau beim Kernpunkt. Die Bedeutung der Konsonanten für das Verstehen von gesprochenen Informationen ist von Sprache zu Sprache unterschiedlich. Es gibt Sprachen, die viele Konsonanten verwenden und solche mit einer geringeren Zahl von Konsonanten. Die folgende Graphik zeigt einige dieser Unterschiede. Die Sprache mit den wenigsten Konsonanten (19) in diesem Vergleich ist Französisch (Fr). Deutsch (Gr) liegt mit 26 Konsonanten deutlich höher. Spitzenreiter ist Spanisch (Es) mit 30 Konsonanten.
[Quelle: French-German Bilingual Acoustic Modeling for Embedded Voice Driven Applications
Jozef Ivanecký,Volker Fischer, and Siegfried Kunzmann, in: V. Matousek et al. (Eds.): TSD 2005, LNAI 3658, pp. 234-240, 2005. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg]
Die Ursache für die mögliche Überlegenheit der französischen Sprache könnte also an der geringen Zahl ihrer Konsonanten liegen. Franzosen sind deshalb möglicherweise weniger auf das Verstehen der Konsonanten angewiesen, die im Verlaufe einer Altersschwerhörigkeit für die Ohren immer schwieriger wahrzunehmen sind.
Auch die Tonhöhe einer Sprache könnte eine Rolle spielen
Ein weiterer spannender Aspekt könnte die Tonhöhe einer Sprache sein. In welchen Frequenzen wird sie gesprochen? Ist es eher eine dunkle oder helle Sprache? Auch dazu gibt es Daten. [Quelle: https://medium.com/language-insights/sound-frequencies-of-language-714b97811408]
Der Frequenzbereich der deutschen Sprache startet bei 125 Hz und endet bei 3.000 Hz. Beim Vergleich der deutschen mit der französischen Sprache sieht man, dass im Französischen der Frequenzbereich über 2.000 Hertz fehlt. Dies ist genau der Bereich, in dem die Konsonanten liegen und in dem die Altersschwerhörigkeit im Alltag spürbar wird. Also 2:0 für Französisch. Zumindest aus der Sicht altersschwerhöriger Menschen.
Werfen wir jetzt einen Blick auf den orangen Balken, das britische Englisch. Man kann sehen, dass die Briten eine der „hellsten“ Sprachen der Welt haben. Ihr Frequenzbereich beginnt bei 2000 Hertz und reicht bis 12.000 Hertz. Welche praktischen Auswirkungen könnte dies haben?
Verstehen die alten Briten die Welt nicht mehr?
Eine Fragestellung liegt nahe: Wenn das britische Englisch so hochfrequent gesprochen wird, dann könnten in Grossbritannien mehr alte Menschen ein Hörproblem haben als in anderen Ländern, z.B. als in Frankreich und Deutschland.
Beim Prüfen dieser Vermutung habe ich mit Verzweiflung festgestellt, dass Daten zum Hörvermögen von Menschen fast überall auf der Welt von Experten geschätzt werden, sich allenfalls auf kleine und wenig belastbare Studien stützen. Gleichzeitig war ich allerdings auch erleichtert, dass Arztgeheimnis und der Schutz der Privatsphäre der Menschen offensichtlich immer noch ziemlich intakt sind.
Im Folgenden nutze ich die wenigen Zahlen, die mir zugänglich waren, wobei ich betone, dass ich sie für sehr spekulativ halte. Aber vielleicht sind die Schätzfehler der Experten in den einzelnen Ländern ähnlich, so dass zumindest die Relationen der Zahlen einigermassen richtig sind. In dieser Hoffnung – ohne die auch Wissenschaft nicht leben kann – kann man feststellen, dass die Zahlen meine Vermutung tendenziell stützen, zumindest nicht grundlegend widerlegen.
[Quelle: https://medium.com/language-insights/sound-frequencies-of-language-714b97811408, mit Zahlen ergänzt und grafisch verändert.]
Das hochfrequente britische Englisch – von 2.000 bis 12.000 Hertz – mit 24 Konsonanten „führt“ dazu, dass rund 16 % der Briten ein Hörproblem erleben.
In Frankreich (der unterste, blaue Balken) liegt der Anteil der Menschen mit Hörproblemen bei etwa 9,5 % deutlich niedriger. Liegt es vielleicht daran, dass die französische Sprache mit nur 19 Konsonanten auskommt und eine maximale Frequenz von etwa 2.000 Hertz hat? Der grösste Teil der französischen Sprache liegt also im eher niederfrequenten Bereich, der bei Hochtonschwerhörigkeit noch relativ gut verstanden wird.
Die deutsche Sprache (schwarzer Balken) befindet sich im Mittelfeld: Sie hat zwar von den hier betrachteten Sprachen mit 26 die höchste Zahl der Konsonanten, kann diesen Nachteil für schwerhörige Menschen aber vielleicht durch ihre Frequenzobergrenze von 3.000 Hertz ausgleichen. Ergebnis ist ein Anteil von 13 % Menschen mit Hörproblemen.
Einwand!
Ein möglicher Einwand könnte sein, dass man die Verständlichkeit von Sprachen nicht isoliert nur nach Zahl der Konsonanten und der Frequenz beurteilen kann. Schliesslich könnten inhaltliche Aspekte, Wörter, Formulierungen auch eine Rolle spielen. Um diesen Einwand zu entkräften, habe ich mir Daten für die US-englische Sprache angeschaut. Sie ist dem britischen Englisch fast identisch, bis auf die Aussprache.
Die typisch US-amerikanische Aussprache (bitte wieder nach oben scrollen zur letzten Abbildung) nutzt einen wesentlich tieferen Frequenzbereich als das britische Englisch: Die Amerikaner starten mit 1.000 Hertz und riegeln bei 4.000 Hertz ab. „Ergebnis“: 13 % Menschen mit Hörproblemen.
Die Engländer beginnen erst bei 2.000 Hertz und beherrschen die Kunst der hohen Frequenzen bis 12.000 Hertz. Möglicherweise mit Nachteilen für schwerhörige Menschen. Der Spitzenwert von 16 % Briten mit Hörproblemen könnte dies nahelegen.
Anteil von Menschen mit Hörproblemen
Grossbritannien: ca. 16 %
https://www.hearinglink.org/your-hearing/about-hearing/facts-about-deafness-hearing-loss/
Frankreich: 8 % – 11 %
https://efhoh.org/wp-content/uploads/2017/04/Hearing-Loss-Statistics-AGM-2015.pdf
https://www.unsaf.org/doc/FinalReportHearingLossV5.pdf
Deutschland: ca. 13 %
https://www.hear-it.org/germany-one-in-five-suffering-from-hearing-loss
USA: ca. 13 %
https://www.nidcd.nih.gov/health/statistics/quick-statistics-hearinggov/health/statistics/quick-statistics-hearing
Warnung vor dem Kreativen
Meine Beobachtungen und daraus abgeleiteten Überlegungen können durchaus als wissenschaftlich verstanden werden. Die zur Verfügung stehenden Daten sind dies definitiv nicht. Insofern klassifiziere ich meine Ausführungen als Beitrag zu einer kreativen, alltagsrelevanten und – vor allem – unterhaltsamen Wissenschaft.
Ob ich allerdings eines Tages wirklich gerne Franzose wäre, muss ich mir noch überlegen. Ich bin auf der Suche nach einer Sprache, die vielleicht noch besser verständlich ist als Französisch. Schön wäre auch, wenn diese Sprache in einem Land gesprochen würde, das mich mit mildem Klima und intelligenten, freundlichen Menschen verwöhnt.
Autor:
Dr. Gundolf Meyer-Hentschel ist Verhaltenswissenschaftler. Einer seiner Schwerpunkte ist das Altern. 1994 hat er den Alterssimulationsanzug erfunden.
Das Meyer-Hentschel Institut ist ein verhaltenswissenschaftliches Forschungs- und Beratungsunternehmen.
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