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Steht die einstige Apotheke der Welt vor der Schließung?

Autoren: Rainer Westermann, Chairman Life Sciences Acceleration Alliance e.V. und Christian Pierret, ehemaliger französischer Industrieminister, Direktor mehrerer Biotech-Unternehmen und Vorstandsmitglied der europäischen Investorenvereinigung Life Sciences Acceleration Alliance e.V.

Aktuell werden in Brüssel die Rechtsvorschriften für die pharmazeutische, biowissenschaftliche und biotechnologische Industrie durch die Europäische Kommission geprüft. Dabei stellen sich zahlreiche Fragen – von der Finanzierung von Innovationen bis hin zur Dauer des Patentschutzes.

Einst waren der Zusammenhalt und die Solidarität zwischen allen Mitgliedstaaten eine Bank. Europa hat sich während der Covid-19-Pandemie vergleichsweise gut geschlagen. Gesellschaftliche Werte wie das Recht auf Gesundheit für alle wurden mit der Notwendigkeit wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und der Finanzierung von Forschung bestmöglich in Einklang gebracht.

Das gut orchestrierte und schnelle Zusammenspiel eines global aufgestellten US-amerikanischen Pharmaunternehmens wie Pfizer mit dem kleinen deutschen Biotech-Unternehmen BioNTech hat zur schnellen Eindämmung der Pandemie nicht nur in Europa beigetragen.

Warum keine europäische Erfolgsstory?

Die Frage, die man sich stellen muss: Warum musste man auf die Zusammenarbeit mit einem US-Pharmariesen zurückgreifen? Warum konnte man in Europa keine adäquate lokale Lösung auf die Beine stellen?

Auf ein Wort reduziert, lautet die Antwort „Überregulierung“. Wir finden in Europa einen sehr komplexen regulatorischen und gesetzlichen Rahmen vor, der Innovationen eher bremst als befördert. Das beginnt beim Finanzierungszugang und geht bis hin zum Patentschutz. Aktuell liegt die Innovationskraft im Gesundheitswesen bei Hunderten, hoch spezialisierten kleinen und mittelständischen Unternehmen mit sehr großem wissenschaftlichem Mehrwert. Sie sind oft Vorreiter bei Forschung und Entwicklung und treiben die großen Pharmaunternehmen und öffentlichen Gesundheitseinrichtungen vor sich her.

Forschung und Entwicklung sind in Europa jedoch erheblich kostenintensiver als in anderen Märkten. Der Grund hierfür liegt in einem komplexen Geflecht aus Kontrollen und Vorschriften, die zusätzlich zu den nationalen Anforderungen der einzelnen Mitgliedstaaten hinzukommen. Zusätzlich ist die Entwicklung eines neuen Moleküls ein langwieriger Prozess, bei dem die Forschung hierzulande den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Dies ist ein Grund, warum Investoren im Gesundheitswesen höhere Kapitalrisiken haben als dies in anderen Wirtschaftszweigen der Fall ist.

Niedrige Investitionen in europäische Biotech-Unternehmen bedrohen Gesundheitsinnovation

Die europäische Investorenvereinigung LSAA hat kürzlich eine Studie* veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass US-amerikanische Unternehmen im Jahr 2020 etwa 11-mal mehr in ihre Forschung und Entwicklung investierten als europäische Life-Sciences-Unternehmen. Darüber hinaus nehmen Venture-Capital-Firmen in Europa drei- bis viermal weniger Kapital auf als in den USA. Doch ohne Wagniskapital können sich innovative Lösungen im Laufe der Zeit nicht entwickeln. Und die Rechnung ist einfach: für ein neues Molekül, das auf den Markt gebracht wird, stehen eine Milliarde investierte Mittel, zehn Jahre Arbeit und 10.000 getestete Moleküle.

Investoren sehen sich künftig einem härter werdenden Wettbewerb mit den USA, Südkorea, China und Indien ausgesetzt. Das in diesen Märkten verfügbare Kapital ist im Durchschnitt zwei- bis dreimal so viel pro Finanzierungsrunde – verglichen mit Europa. Europäischen Unternehmen, denen es an Kapital mangelt, wenden sie sich so vermehrt außereuropäischen Märkten zu, in denen das Kapitalangebot reichhaltiger und leichter zu mobilisieren ist und eine ausgeprägte finanzielle Risikokultur vorherrscht. Dort lässt der regulatorische Rahmen oft einen leichteren und günstigeren Zugang zu Finanzmitteln zu und gleichzeitig profitieren Unternehmen von längeren Patentnutzungsdauern. Im Jahr 2020 wurden in den USA fast 12.000 neue Patente erteilt – in Europa nur 6.000, von denen 2.600 an US-Unternehmen gingen.

Die fünf strategischen Prioritäten für Europa

Die Mitgliedstaaten müssen sich erstens verstärkt auf eine Dynamik zur steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung und zur Belohnung von Erfolgen fokussieren. Frankreich hat dementsprechend die Steuergutschrift für Forschung und die Abgeltungssteuer eingeführt. Zweitens müssen Regelungen, die die Entwicklung neuer Technologien und die Anmeldung neuer Patente nicht finanziell bestrafen zusammen mit drittens einem starken Schutz des geistigen Eigentums, von Patenten und Daten implementiert werden, um risikoreiche Investitionen zu sichern. Viertens sollte die Nutzungsdauer von Patenten verlängert werden, um die Attraktivität von Investitionen zu fördern, die klar und deutlich den Patienten in den Mittelpunkt der Innovation stellen. Fünftens muss eine größere Aufmerksamkeit auf Patienten gelegt werden, damit diese unabhängig von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage so schnell wie möglich von den Forschungsergebnissen profitieren können.

Über die Life Sciences Acceleration Alliance e.V. (LSAA)

Die Life Sciences Acceleration Alliance e.V. (LSAA) hat sich Aufklärung und Vermittlung von Wissen zur Risikokapitalfinanzierung im Life Sciences Sektor in Europa zur Aufgabe gemacht. LSAA will das unternehmerische Umfeld für junge und innovative Unternehmen im Bereich Life-Sciences in Europa gezielt verbessern und einen verlässlichen Rechtsrahmen für entsprechende Investitionen und Risikokapitalgeber schaffen.

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